Suffizienz an Hochschulen im ländlichen Raum

Die vernachlässigte Strategie für eine nachhaltigere Gesellschaft

Im Juni 2016 saß ich mit Johannes Geibel inmitten einer illustren Runde von großen und bekannten Interessenvertretungen. Das Bundeskanzleramt hatte das netzwerk n anlässlich der Anhörung zum Entwurf der Neuauflage der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie eingeladen. Jede eingeladene Organisation konnte eine Stellungnahme einreichen und ihre Kritik während der Anhörung mündlich vorbringen – für unser noch junges, studentisch geprägtes Netzwerk war es noch ungewohnt, überhaupt an diesem politischen Prozess zu partizipieren. Bemerkenswert war, wie geeint die oftmals im Detail dann doch zerstrittene Zivilgesellschaft ihre Einschätzungen und Grundüberzeugungen verbalisierte und den Entwurf kritisierte. Dieser Entwurf steht für mich exemplarisch für den unhinterfragten politischen Konsens in Deutschland: Das Verständnis der starken Nachhaltigkeit findet keinen Einzug in politische Strategien, die unzähligen Zielkonflikte zwischen Wirtschaftswachstum und einer nachhaltigen Entwicklung werden konsequent ignoriert und Rebound-Effekte sind offenbar in den Augen politischer Entscheider:innen irrelevant. Zuletzt war der Entwurf von Effizienz- und Konsistenzzielen und -maßnahmen durchzogen. Mit anderen Worten: Das Fundament der Nachhaltigkeitsstrategie bildet ausschließlich eine Wette auf technische Innovationen in der Zukunft. Zweifelsohne sind Effizienz und Konsistenz wesentliche und unentbehrliche Nachhaltigkeitsstrategien, doch ohne Suffizienz ist ein nachhaltiger Pfad des menschlichen Lebens auf unserem Planeten mit endlichen Ressourcen unerreichbar. Denn: Erst die Suffizienz fragt nach dem „Warum” und „Ob” des Ressourcenverbrauchs und setzt in der Gegenwart beim Handeln eines jeden Individuums und einer jeden Organisation an, anstatt einzig und allein auf technische Innovationen und somit auf eine hochriskante Wette für zukünftige Generationen zu setzen. Letztlich brachte eine Stichwortsuche der Begriffe „effizient” und „Effizienz” im Entwurf der Nachhaltigkeitsstrategie 111 Ergebnisse – „suffizient” und „Suffizienz” fanden sich dagegen null (!) Mal.

Der Begriff der Suffizienz

Suffizienz bedeutet Genügsamkeit, maßvoller Konsum und gut überlegte Ressourcennutzung. Also harter Verzicht? Nein. Vielmehr geht es darum, Verantwortung für die Umweltfolgen des eigenen Handelns zu übernehmen und ein ressourcenschonendes und zugleich erfülltes Leben zu führen. Übersetzt heißt das, Genügsamkeit sowie das „richtige” und „notwendige” Maß des Umweltverbrauchs auf individueller oder organisationaler Ebene anzuvisieren. Konkret weisen folgende Stichwörter auf Suffizienz hin: Reduktion, Substitution und Anpassung des Ressourcenverbrauchs, ebenso wie Eigenproduktion oder gemeinsame, langlebige Nutzung von Gütern – diese Strategien sind überdies unmittelbar mit einem achtsamen, bewussten Umgang mit Mensch und Umwelt verbunden.

Bislang steht die Nachhaltigkeitsstrategie der Suffizienz politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich im übermächtigen Schatten der Effizienz. Im Rahmen des von der Europäischen Union in der NOPLANETB-Initiative geförderten Projekts „Suffiziente Hochschulen im ländlichen Raum” (Oktober 2019 bis August 2020) wollte ich die Suffizienz als unabdingbare Nachhaltigkeitsstrategie in den Blick nehmen und eine Lücke in der Betrachtung von Nachhaltigkeit an Hochschulen schließen. Gemeinsam mit Luca Markus veröffentlichte ich eine Good Practice-Sammlung, die erstmals und anschaulich zeigt, wie Suffizienz an Hochschulen im ländlichen Raum bereits heute gelebt und erprobt wird.

Damit rücken wir bewusst nicht die häufig prominent in der wissenschafts- und hochschulpolitischen Debatte vertretenen Hochschulen der großen städtischen Zentren ins Scheinwerferlicht, sondern fokussieren bewusst die mehr als 110 Hochschulen im ländlichen Raum. Diese wirken dort oftmals als regionale Ankerpunkte mit Vorbild- und Innovationsfunktion. Es ist grundsätzlich auffällig, dass in Deutschland zumeist kleinere und mittlere Hochschulen wie die Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde, die Leuphana Universität Lüneburg oder der Umwelt-Campus Birkenfeld vorangehen und Nachhaltigkeit am konsequentesten in ihre Strukturen überführt haben.

Mit knapp 40 Einreichungen auf unseren Call wurden unsere Erwartungen erheblich übertroffen. Vor allem beeindruckt die Vielfalt, wie Menschen und Initiativen Suffizienz in Hochschulen und der unmittelbaren Umgebung verankert haben bzw. verankern wollen. Das Spektrum reicht von Sharing- und Verleih-Angeboten, Repair Cafés, Maker Spaces, Lehrangeboten, einem Zero Emission-Konzept, Foodsharing, Regulierung dienstlicher Kurzstreckenflüge, Campus-Bienen, Urban Gardening, Silence Space, wiederverwendbaren Thermobechern, Klima-Mapping, Forschungsprojekten, Klimaresilienz und gesundes Arbeiten bis Reallabor.

Die systematisch aufgearbeiteten Ansätze, Projekte und Strukturen gelingender Nachhaltigkeit laden zur Nachahmung ein. Sie bieten Denk- und Handlungsimpulse, wie Suffizienz mit Inhalt, Kreativität und Freude auf individueller und organisationaler Ebene an Hochschulen realisiert werden kann. Die Botschaft der Sammlung ist: Wagt Neues, werft Ballast ab und setzt vielfältig Suffizienz für eine nachhaltige Entwicklung ein.

Ziele der Sammlung

  • Suffizienz als Nachhaltigkeitsstrategie auf die Agenda von Hochschulen setzen

  • Austausch und Vernetzung anregen

  • den ländlichen Raum als Erprobungsort von Suffizienz in das Bewusstsein rücken

  • suffiziente und zukunftsweisende Verhaltensweisen und Lebensmodelle an Hochschulen initiieren und verbreiten

  • strukturelle Veränderungen für eine Integration von Suffizienz in die hochschulischen Bereiche Lehre, Forschung, Betrieb & Campusleben, Governance und Transfer anstoßen

Hinweise auf die Sammlung

Zählmarke VG Wort