Kulturpolitik in Deutschland
Der untere Zeitstrahl veranschaulicht die einschneidenden Wegmarken und prägenden Leitmotive der kulturpolitischen Konzeptionen in Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Daraus geht ein ambivalentes Bild hervor.
Erstens: Die antipodischen Systeme der DDR und der BRD verfolgten kulturpolitisch konträre Ansätze: Kultur für den Staat versus Kultur im Staat. Dennoch zeigen sich übergreifende Parallelen. In den 1950er und 1960er Jahren instrumentalisierte in beiden Staaten eine politisch-gesellschaftliche Elite im Rahmen des jeweiligen Regimetypus die Kultur, um eigene Wertvorstellungen top-down auf das Gemeinwesen zu übertragen. In der DDR mündete dies in einer zentralisierten Arbeiterkultur, in der BRD in einer staatlichen Bildungsbürgerlichkeit. Der unzureichende Abgleich mit den Bedürfnissen der Gesellschaft (DDR) und der gelebten Kulturpraxis (BRD) ließ das Projekt der Eliten scheitern. Beide Staaten reagierten mit einer stärkeren – wiederum top-down formulierten und in der Konsequenz oberflächlichen – Ausrichtung an den Bedürfnissen der Bevölkerung, da sie sich den Einflüssen einer westlichen, sich globalisierenden Massenkultur nicht verschließen konnten.
Zweitens: Bis Ende der 1980er Jahre begleitete die kulturpolitischen Akteure der BRD das Selbstverständnis, dass öffentliche Kulturausgaben kontinuierlich steigen. Diese expansive Hochphase der Kulturpolitik schloss wachsende Ansprüche, wachsende gesellschaftliche Zuständigkeiten, wachsende Budgets und eine wachsende kulturelle Infrastruktur ein. Die Expansion in diesen vier Bereichen und die Kosten der Wiedervereinigung bedingten den in den 1990er Jahren einsetzenden kulturpolitischen Umbruch. Ein handlungspragmatischer Rückzug auf die Bestandswahrung folgte. Seit Mitte der 2000er Jahre treten verstärkt die aus dem Expansionsstreben resultierenden kulturpolitischen Verteilungs- und Gerechtigkeitskonflikte sowie Sinnfragen der Kulturförderung hervor; der Kulturinfarkt (Haselbach et al. 2012) steht symbolisch für diese noch unbewältigten Herausforderungen.
Drittens: Die zweite Ölkrise löste 1982 in Deutschland eine Wirtschaftsrezession aus, in deren Rahmen die Arbeitslosigkeit erheblich stieg und in gleichem Maße ökonomische Argumentationen und Begründungen für kulturpolitisches Handeln an Bedeutung gewannen. Die Akteure der Kulturpolitik verinnerlichten nicht nur ein neuartiges ökonomisiertes Vokabular und begriffliche Komposita (Kulturwirtschaft, -tourismus etc.), sondern griffen ebenso auf eine nutzen- und verwertungsorientierte Rhetorik zurück, um Kulturförderung zu rechtfertigen: Wachstums- und beschäftigungsstimulierende Effekte, Umwegrentabilitäten und das Kulturangebot als unentbehrlicher weicher Standortfaktor etablierten sich als beliebte Stichwörter. Die Ambivalenz zeigt sich darin, dass sich die ökonomische Logik zwar unterschwellig in der Begründung von Kulturpolitik und den Kriterien von Förderinstrumenten verfestigte, aber dennoch eine ablehnende, sogar repulsive Haltung gegenüber wirtschaftlich tragfähigen, nachfrage- und unterhaltungsorientierten Kulturangeboten fortbesteht. Letztere werden im Politikfeld diskreditiert, marginalisiert oder ignoriert, wie auch die empirischen Erhebungen der Studie Kulturpolitik in Thüringen belegen.
Viertens: Kulturpolitischen Akteuren gelang es nicht, die ambitionierten Ziele der Neuen Kulturpolitik und der Soziokultur zu realisieren. Dessen ungeachtet schmücken diese Absichten weiterhin die Sprache und die politischen Dokumente im Politikfeld. Neue Ziele und Aufgaben, wie zuletzt die gesellschaftliche Integration von Geflüchteten, fügen sich kontinuierlich in den Kanon der von Kulturpolitik beanspruchten zu lösenden Herausforderungen ein. Die Schere zwischen bildungsbewussten Kulturrezipienten und den restlichen gesellschaftlichen Gruppen vergrößert sich indes. Formelle und informelle Bildungs- und Zugangshürden hindern den Großteil der Bürger an der Teilhabe am kulturellen Angebot; in den heterogenen Lebensrealitäten spielt Kultur im Sinne der staatlichen Kulturförderung nur eine geringfügige Rolle. Außerdem privilegiert die öffentliche Kulturförderung nahezu exklusiv etablierte, tradierte Einrichtungen und Kulturgüter. Besonders während der expansiven Hochphase waren Kulturpolitiker von den positiven Auswirkungen ihres Kulturverständnisses derart überzeugt, dass sie dem Ausbau des Angebots eine hohe Priorität einräumten, die Nachfrageseite und die Evaluation der Kulturförderung hingegen ausblendeten. Diese Unachtsamkeit setzt sich bis in die Gegenwart fort, wobei punktuell partizipativ gestaltete Kulturentwicklungskonzeptionen einen Kontrapunkt setzen, wenngleich einen budgetär motivierten und marginalen.